04.04.2013   Heimsuchung

HEIMSUCHUNG Heinrich Löhr

"Kann dieser Mann überhaupt Fahrrad fahren", fragte ich mich unter einem Anflug von schlechter Laune. Ich war seit dreißig Minuten zu meiner ersten Heimsuchung unterwegs. "Kommen Sie mit dem Fahrrad", hatte mir Heinrich Löhr geraten, "das ist schön." Jetzt lag ich zum zweiten Mal am Boden und wie die meisten Menschen hasse ich es vom Fahrrad zu fallen.

Der Waldboden federte den Sturz nur bedingt ab. Ich saß hart auf Eis und Schnee. Skeptisch hatte die letzte Dorfbewohnerin, die ich kurz vor dem Eintritt in den Wald noch einmal nach dem Weg zum Forsthaus gefragt hatte, mir die Richtung gewiesen. Mit dem Fahrrad wollen Sie dahin? Ich halte das für keine gute Idee, hatte sie ihrer Wegbeschreibung hinzugefügt. Inzwischen teilte ich ihren Zweifel. Vielleicht, dachte ich mir, sollte ich diesen Dorfbewohnern nicht alles glauben. Das beste schien mir, das Fahrrad nunmehr über die vereiste Waldstraße zu schieben, um doch noch etwas von der beschrieben Schönheit des Weges erfassen zu können, der mich am Thursee vorbei zum Forsthaus bringen sollte. Es galt meine Laune zu retten.

Mit fünfzehnminütiger Verspätung erreichte ich den Zielort. Der Gastgeber empfing mich mit einem Ausdruck der Verblüffung: Ach, Sie sind mit dem Fahrrad gekommen? Ich verzichtete auf die süffisante Entgegnung, dass ich ja nur auf seinen Rat hin gerade mein Leben riskiert hätte.

Während dieser ersten Heimsuchung hörte ich von der Erfüllung eines Lebenstraumes. Damals kannte ich die Geschichte des Waldes um den Thursee noch nicht und wusste auch nicht von Lenzen, dem Ort, den es einmal gab, immer weiter am Forsthaus vorbei, noch tiefer in den Wald hinein. Einer der Orte, den es nicht mehr gibt. Ich hatte noch nicht gehört, dass der Wald von der Bevölkerung zu DDR-Zeiten mit schnell wachsenden Nadelhölzern aufgeforstet worden war und dass viele Menschen die Privatisierung des Gebietes als Verlust empfanden.
Erst nach und nach lernte ich zu verstehen, wie die Träume des einen mit der Lebensrealität des Dorfes zusammenprallten.

Auf dem Rückweg konnte ich dann die umgebende Schönheit doch noch sehen. Ich versuchte ja auch gar nicht mehr zu fahren, sondern tappte nach altbewährter Methode auf dem Weg, der das Ziel ist nachhause in meine kleine Platte und dachte über Romantik, Nostalgie und das sentimentalische Bewusstsein nach - und fand es gut ist, dass in diesem Dorf Menschen lebten, die träumten.